15 Kleiner Beitrag zur abendländischen Mythologie
Während das Boot langsam in den kleinen Hafen einlief, erkannten wir den alten Mann, der auf der steinernen Bank vor einer Ruine saß. Der Mann hätte vor dreihundert Jahren genauso dort sitzen können; daß er die Pfeife rauchte, änderte nichts an dieser Vorstellung: mühelos ließen sich Tabakspfeife, Feuerzeug und Woolworth-Ballonmütze ins siebzehnte Jahrhundert transponieren: der alte Mann zog sie mit, zog sogar die Filmkamera mit, die George sorgfältig im Bug des Bootes beschützt hatte; wahrscheinlich waren vor Hunderten von Jahren Moritatensänger, predigende Mönche genauso in diesem Hafen gelandet, wie wir landeten; der alte Mann lüpfte die Mütze — weiß war sein Haar, flockig und dicht — , er band unser Boot fest, wir sprangen an Land und wechselten, einander zulächelnd, das »lovely day« — »nice day« — »wonderful day«: sehr komplizierte Einfachheit der Begrüßung in den Ländern, wo das Wetter ständig von Regengöttern bedroht ist, und sobald wir den Boden der kleinen Insel betreten hatten, schien es, als schlage die Zeit wie ein Strudel über uns zusammen; wie grün das Grün dieser Bäume und Wiesen ist, läßt sich nicht beschreiben; grüne Schatten werfen sie in den Shannon, ihr grünes Licht scheint bis in den Himmel zu reichen, wo die Wolken wie moosige Placken sich um die Sonne gruppiert haben; hier könnte das Märchen von den Sterntalern spielen. Grün wölbt sich über der Insel, und die Sonne fällt in talergroßen Scheiben über Wiesen und Bäume, liegt dort talergroß und talerblank, und manchmal hüpft ein Taler auf den Rücken eines wilden Kaninchens und fällt auf die Wiese zurück.
Der alte Mann ist 88 Jahre alt, er ist aus dem Jahrgang Sun Yat Sens und Busonis, er wurde geboren, als Rumänien noch nicht war, was es schon lange nicht mehr ist: noch kein Königreich; er war vier Jahre alt, als Dickens starb — und er ist ein Jahr älter als das Dynamit; soviel nur, um ihn im schwachen Netz der Zeit zu fangen. Die Ruine, vor der er saß, war die einer Scheune aus dem Anfang unseres Jahrhunderts, aber fünfzig Schritte weiter stand eine aus dem sechsten Jahrhundert; hier baute St. Ciaran of Clonmacnoise vor vierzehnhundert Jahren eine Kirche. Wer nicht den speziellen Scharfblick des Archäologen mitbringt, wird die Mauern aus dem zwanzigsten nicht von denen aus dem sechsten Jahrhundert unterscheiden können; grün überglänzt sind sie alle, mit goldenen Sonnenflecken bedeckt.
Ausgerechnet hier wollte George eine neue Farbfilmtechnik erproben, und der alte Mann — ein Jahr älter als das Dynamit — war zum Statisten ausersehen: mit der qualmenden Pfeife im Mund sollte er vor der untergehenden Sonne am Ufer des Shannon gefilmt werden, sollte ein paar Tage später dann auf amerikanischen Bildschirmen zu sehen sein, und alle Iren in den USA würden vor Heimweh feuchte Augen bekommen und dann zu singen beginnen: millionenfach vervielfältigt, von Schleiern grünen Lichtes umgeben, rosig von der untergehenden Sonne angestrahlt, und blau, sehr blau sollte der Qualm aus seiner Pfeife kommen — so sollte er zu sehen sein.
Aber zuerst mußte Tee, viel Tee getrunken und viel erzählt werden, und die Besucher mußten ihren Tribut an Neuigkeiten entrichten; denn trotz Radio und Zeitung hat doch die Neuigkeit aus dem Mund dessen, dem man die Hand gedrückt, mit dem man Tee getrunken hat, sie hat das eigentliche Gewicht. Wir tranken den Tee im Kaminzimmer eines verlassenen Herrenhauses; der ständige dunkelgrüne Schatten der Bäume schien die Wände grün gefärbt, schien die Möbel aus der Dickens-Zeit mit grüner Patina überzogen zu haben: der pensionierte englische Oberst, der uns in
seinem Boot herübergebracht hatte — mit seinem langen fuchsigen Haar, dem fuchsigen Spitzbart sah er aus wie eine Mischung von Robinson Crusoe und Mephisto — , übernahm die Führung des Gesprächs, und leider verstand ich sein Englisch nicht gut, obwohl er sich liebenswürdig bemühte, slowly, sehr slowly zu sprechen.
Zunächst verstand ich von der Unterhaltung nur drei Worte: Rommel, war und fair, und ich wußte, daß Rommels Fairness im War eines der Lieblingsthemen des Obersten war; zudem wurde ich abgelenkt durch Kinder, Enkel, Urenkel des Alten, die ins Eßzimmer hineinschauten oder Tee, Wasser, Brot, Kuchen brachten (eine Fünfjährige kam mit einem halben Keks und legte ihn als Zeichen ihrer Gastfreundschaft auf den Tisch), und alle, Kinder, Enkel, Urenkel, hatten das spitze, dreieckig-verschmitzte, fast herzförmige Gesicht, das so oft als Wasserspeier von den Türmen französischer Kathedralen auf die emsige Erde herunterblickt...
George saß mit der schußbereiten Kamera in der Hand und wartete auf den Sonnenuntergang, aber die Sonne zögerte an diesem Tag, mir schien, als zögere sie besonders lange, und der Oberst wechselte von seinem Lieblingsthema auf ein anderes über: er sprach von einem gewissen Henry, der im Krieg in Rußland ein Held gewesen zu sein schien: der Alte blickte mich mit runden, hellblauen Augen manchmal erstaunt fragend an, und ich nickte: Sollte ich jenem Henry, den ich nicht kannte, das Heldentum absprechen, das Robinson-Mephisto ihm zusprach?
Endlich schien die Sonne bereit, wie die Regie es verlangte, unterzugehen, sie war dem Horizont näher gerückt, näher gerückt auch den Television-Beflissenen in den USA, und wir gingen langsam ans Shannon-Ufer zurück. Schnell fiel jetzt die Sonne, und der alte Mann stopfte rasch seine Pfeife, rauchte sie aber zu hastig leer, und so qualmte sie schon nicht mehr, als die Sonne gerade mit ihrem unteren Rand den Horizont erreicht hatte. Nun aber war auch der Tabaksbeutel des alten Mannes leer, und die Sonne rutschte rapide. Wie tot aber sieht eine Pfeife, die nicht qualmt, im Munde eines Bauern aus, der vor der untergehenden Sonne steht: folkloristische Silhouette, Silberhaar im grünen Licht, rosig überhauchte Stirn. Schnell zerrupfte George ein paar Zigaretten, stopfte sie in den Pfeifenkopf, hellblau stieg der Qualm auf, und gerade jetzt war die Sonne halb hinter dem grauen Horizont untergetaucht: Hostie, die zusehends an Glanz verlor — die Pfeife qualmte, die Kamera schnurrte, und das Silberhaar glänzte: Grüße aus der teuren Heimat für feuchte Irenaugen in den USA, die neue Form der Ansichtskarte. »Wir spielen ihnen«, sagte George, »eine nette Bagpipe-Melodie hinein.«
Mit der Folklore ist es fast wie mit der Naivität: wenn man weiß, daß man sie hat, hat man sie schon nicht mehr, und der alte Mann stand ein wenig traurig da, als die Sonne untergegangen war; blaugrauer Dämmer sog die grünen Schleier auf. Wir gingen zu ihm, zerrupften mehr Zigaretten und stopften sie in seine Pfeife; kühl war es plötzlich, Feuchtigkeit strömte von überall her, und die Insel, dieses winzige Königreich, seit drei Jahrhunderten von der Familie des Alten bewohnt, die Insel erschien mir wie ein großer grüner Schwamm, der halb im Wasser lag, halb aus ihm herausragte und sich von unten her mit Feuchtigkeit vollsaugte.
Erloschen war das Feuer im Kamin, dunkel fiel ausgeglühter Torf über die roten Klumpen, und als wir langsam zu dem kleinen Hafen zurückgingen, kam der alte Mann neben mich und sah mich merkwürdig an: sein Blick war mir peinlich, weil er — ja, weil er Ehrfurcht zu enthalten schien, und ich kam mir nicht ehrfurchtgebietend vor; innig, scheu und mit echter Ergriffenheit drückte er mir die Hand, bevor ich ins Boot stieg. »Rommel«, sagte er leise und langsam, und in seiner Stimme lag die Schwere einer Mythe, und »Henry« sagte er — und nun stand alles, was ich vorher nicht verstanden hatte, alles, was über jenen Henry gesagt worden war, plötzlich vor mir wie ein Wasserzeichen, das nur bei besonderer Beleuchtung sichtbar wird. Ich begriff, daß mit Henry ich gemeint war. George sprang neben mir ins Boot: er hatte St. Ciarans Kapelle noch schnell im Dämmer gefilmt. George grinste, als er mein Gesicht sah.
Ich schöpfte Atem, viel Atem, um den Mythos zu korrigieren: weder Rommel noch Henry noch der Geschichte gegenüber schien es mir gerecht, es so zu belassen — aber das Boot war schon losgemacht, schon hatte Robinson-Mephisto den Motor angeworfen, und ich rief zur Insel hinüber: »Rommel war nicht der Krieg — und Henry war kein Held, bestimmt kein Held, bestimmt nicht«, aber sicher hatte der alte Mann nur drei von den Worten verstanden: Rommel, Henry und Held — und ich rief laut noch einmal nur das eine Wort: »Nein, nein, nein...«
Auf dieser kleinen Insel im Shannon, die nur selten einmal ein Fremder betritt, wird man vielleicht an dunkel glühenden Kaminen in fünfzig, in hundert Jahren noch von Rommel, vom War und von Henry erzählen. So also dringt das, was wir Geschichte nennen, in entlegene Ecken unserer Welt ein: nicht Stalingrad, nicht Millionen von Ermordeten, Gefallenen, nicht die verstümmelten Gesichter europäischer Städte — der Name des Krieges wird Rommel heißen, Fairness und als Beigabe Henry, der leibhaftig dort war und aus dem blauen Dunkel heraus, vom sich entfernenden Boot aus »Nein, nein, nein!« rief — ein mißverständliches, und deshalb zur Mythenbildung geeignetes Wort...
Lachend stand George neben mir: auch er hatte einen Mythos in seine Kamera hineingeschnurrt: St. Ciarans Kapelle im Dämmer und den alten Mann, weißhaarig, versonnen; noch sahen wir sein schneeweißes, dichtes Haar fern an der Mauer des kleinen Hafens leuchten: ein Silbertupfer in der Tinte des Dämmers. Die kleine Insel, das Königreich, versank im Shannon mit all seinen Irrtümern und all seinen Wahrheiten, und Robinson-Mephisto, der das Ruder hielt, lächelte friedlich vor sich hin: »Rommel«, sagte er leise, es klang wie eine Beschwörung.